Nacktheit und sozialistische Aufbauarbeit


Unter diesem Motto stand die zweite Gymnastik-Matinee der Adolf Koch-Schule, die am 31. Januar 1932 im wiederum überfüllten „Atrium” in Berlin stattfand. Neben den in gewohnter Weise vorbildlichen Darbietungen von Erwachsenengruppen waren die aus begreiflichen Gründen im Programm nicht angekündigten gymnastischen Vorführungen einer Gruppe Kinder und Jugendlicher besonders bemerkenswert. Ihre frischen, unverbildeten Bewegungsgestaltungen erweckten die Begeisterung der Anwesenden.

Von besonderer Bedeutung war auch das kurze Referat des bekannten Vorkämpfers auf dem Gebiete der Sexualreform Dr. Marcuse über „Körperkultur und sozialistische Aufbauarbeit”. Seine ausgezeichneten Ausführungen verdienen größte Beachtung. In großen Zügen umrissen führte er etwa folgendes aus:

Werden und Vergehen des Kosmos wie des organischen Lebens unterliegen ewigen, unabänderlichen Gesetzen des Kreislaufs. Bewegung, Rhythmus, Harmonie durchziehen alles Geschehen. Und wo im Bereiche des menschlichen Lebens das natürliche Geschehen bedroht oder zerstört ist, muß der Mensch helfend und heilend eingreifen. Er muß der Natur von sich aus Rhythmus hinzufügen, um die gestörte Harmonie wieder herzustellen: Körperpflege und Körperkultur. Wo Unnatürlichkeit des Lebens Muskel und Sinne erstarren ließ, müssen sie in systematischer Arbeit aus ihrer Erstarrung gelöst werden. Arbeit am Körper belebt nicht nur die physischen Funktionen des Organismus, sie schafft das Höchste, was der Mensch erstreben kann, die körperseelische Harmonie. Wer seinen Körper beherrscht, lernt auch Seele und Geist zu leiten.
Die gemeinsame Nacktheit der Geschlechter bringt den Menschen der Verwirklichung seines Strebens nach harmonischem Leben näher. Soziales Gewissen aber erfordert, daß wir in unserem Bestreben nicht beim Einzelnen stehen bleiben. Wir müssen zielbewußt das widerspruchsvolle, unharmonische Leben unserer ganzen Gesellschaft neu aufbauen. Denn jede Gesellschaft hat ihr Lebensrecht verwirkt, die infolge Disharmonie zwischen Gütererzeugung und Güterverbrauch nicht einmal das Existenzminimum seiner Glieder sichern kann. Die Gesetze der Harmonie sind dort verletzt, wo die Gesellschaft in Klassen geschieden ist. Darum ist die Forderung nach Aufhebung der Klassengesellschaft die logische Konsequenz des Strebens nach Harmonie.
Es genügt heute aber nicht, dieses Ziel theoretisch-programmatisch zu verkünden. Es muß zur Tat geschritten werden. Die Voraussetzung dafür ist, daß die Verkünder neuer Menschheitsharmonie selbst harmonisch gebaut sind.
Dr. Marcuse schloß mit dem Wort von Nietzsche: „Über Dich selbst sollst Du bauen! Erst aber mußt Du selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele.”

Bemerkung:
Dr. Max Chanan Marcuse (geboren am 14. April 1877, gestorben im Juni 1963) war ein deutscher Dermatologe und Sexualwissenschaftler, jüdischer Abstammung. 1933 emigrierte er nach Palästina, und blieb – nach der Gründung des Staates Israel – dort.

Quelle:
• Text: Lachendes Leben / Sommer 1932
• Wikipedia

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