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Rührt Euch!

Der Lehrer für Leibesübungen lehnt unnötige Bekleidung im Turnbetrieb ab!

Ein Plädoyer für den nackten Sportunterricht
—   1930   —

Aufgaben des Turnlehrers
Der Schulturnbetrieb unserer Tage geht weit über eine schematische körperliche Beschäftigung hinaus, ist außer in Pädagogik und Psychologie in den medizinischen Wissenschaften - Anatomie, Physiologie, Orthopädie, Hygiene - verankert. Wenn der Turnlehrer früherer Tage sein Augenmerk besonders auf das Stoffliche seines Unterrichtes zu richten hatte, ist heute sein Aufgabenkreis viel weiter und vielseitiger umschrieben.
Abgesehen von den vielen methodischen und systematischen Neuerkenntnissen, mit denen heut der Erzieher des Körpers gerüstet sein muss, hat er gemeinsam mit dem Schularzt für die Gesundheit, die ebenmäßige und kräftige Entwicklung der Turnenden einen großen Teil an Verantwortung zu tragen.

Es wäre eine arge Vernachlässiung der Schule, wollte sie nur für die geistige Erziehung ihrer Schüler Sorge tragen. Denn einmal zwingt sie als Grundschule mit pflichtmäßigem Besuch das Kind, täglich mehrere Stunden sich der Schulordnung zu fügen (Sitzzwang), zum andern übt sie als Volks- und Höhere Schule ihren starken Einfluß auf ihre Zöglinge in den Jahren der körperlichen Entwicklung nachhaltig aus. So ist sie einerseits ein Feind des Kindes geworden, der besonders durch schlechte lichtarme Luft des Unterrichtsraumes und durch verhängnivolle Sitzschädigungen Gesundheit und Entwicklung bedroht, anderseits hat sie aber auch die Pflicht zu übernehmen, nicht nur den Geist sondern mit allen Mitteln den Leib auch zu bilden, weil ja die Jahre der Schulzeit im Wachstum des Körpers den Grund zur Gesundheit und Kraft oder Krankheit und Schwächlichkeit des. ganzen weiteren Lebens legen!


Die Schädigungen sind nicht gering !
Die Minderung der körperlichen Entwicklungsreize ist außerordentlich stark! Es stehen daher der Turnstunde als einzige Ausgleichsgelegenheit des Schulbetriebes ernste, gewichtige Aufgaben zu. Das körperliche Wohl liegt in der Hand des Turnlehrers, deshalb muss er in seinem Unterricht mehr tun, als nur den Turnstoff zu vermitteln. Er muss die köperliche Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit jedes emzelnen Kindes kennen, Wachstum und organische Vervollkommnung beobachten, muss im Einverständnis mit dem Schularzt alle Minderwertigkeiten, Schulschädigungen und Entwicklungsstörungen bekämpfen und am Aufbau von Körperkraft, Ebenmäßigkeit und Leistungsfähigkeit mitarbeiten.
Jedem Menschen steht in seiner leiblichen Entwicklung der Turnlehrer sehr nahe. Von seiner Aufmerksamkeit und der Art seines Turnunterrichtes hängt ein großer Teil der zukünftigen körperlichen Verfassung jedes Einzelnen ab.


Gibt es noch Schildbürger ?
Bei einer Tagung des englischen Frauensport-Verbandes erklärten vor kurzem einige Mitglieder des »Mitcham-Athletik-Clubs« die Sportkleidung der britischen Leichtathletinnen wäre im höchsten Grade „shocking” und beantragten dringend eine Reform. Englische Sportmädels haben in Zukunft lose sitzende Blusen mit Ärmeln, sowie schwarze, noch das halbe Knie bedeckende Laufhosen zu tragen. Außerdem sollen sie auf dem Wege zum Start sowie auch zwischen den einzelnen Wettkämpfen u. s. w., noch hochgeschlossene Trainingsanzüge anlegen, damit so die Moral wirklich einwandfrei geschützt ist.

Man stelle sich diese Tracht einmal vor! Aber eine ähnliche Schildbürgerei wäre es, wenn man für den deutschen Schulunterricht eine Bekleidung vorschreiben würde, die den Körper verhüllen, Übel verbergen und Beweglichkeit verhindern würde. Es ist noch garnicht so lange her, als die Turnkleidung der Mädchen in Schule und Verein nicht unähnlich heutiger Frauen-Winterkleidung war und die Übungen an Turngeräten für Mädchen von der Schicklichkeit bestimmt wurden, die vom Rock ihrer Turnkleidung abhing.
Überhaupt war die Vermummung des Körpers im Turnbetrieb noch vor zehn Jahren so unverständlich. sinnwidrig, dass man an Hygiene und Leibesübung überhaupt nicht gedacht zu haben scheint. Wir wissen heute, ein wie großer Feind die Kleidung des Menschen ist und daß sie an Stätten der Leibesübung schon deshalb nicht zugelassen werden dürfte, weil sie nicht erkennen läßt, in welcher gesundheitlichen Verfassung, und auf welcher Entwicklungsstufe sich der verhüllte Leib befindet.

Die Kleidung lügt !
Denn sie kann reicht einen wohl gebildeten Brustkorb, aufrechte Haltung, wohlgeformte Beine oder Füße vortäuschen - und damit körperliche Mängel beschönigen und von nötigen rechtzeitigen Gegenmaßnahmen abhalten. Wir brauchen nicht erst die weisen Griechen der Antike zu fragen, ob wir nackt oder bekleidet den Körper üben sollen, ihr hoher ästhetischer Geschmack wäre immerhin noch ein schwaches Argument gegenüber den eindringlichen Mahnungen und Begründungen unserer Ärzte, die Nacktheit des Körpers in Luft und Licht und auch vor Augen und Urteil der Mitmenschen zu bringen.

Rührt Euch !
Im Turnunterricht sollte so oft als möglich jede Kleidung weggelassen, die Nacktheit zu einer Selbstverständlichkeit werden, damit der Turnlehrer die ihm anvertrauten Körper genau beobachten kann.
Denn niemand bekommt den Körper so oft und ausschließlich zu Gesicht wie er, nicht einmal der Schularzt. Und es gibt viel dabei zu sehen, viel Elend und Krankheit steckt leider in den Leibern unserer Großstadtjugend, Keime zu Siechheit und Untüchtigkeit, die das ganze vor ihnen stehende Leben unnütz oder gar unmöglich machen können.
Unterwertigkeiten die sich schon in früher Jugend zeigen, ererbt oder durch schlechte Pflege und Ernährung im Kindesalter erworben wurden, wachsen im Schul- und Pubertätsalter, der Zeit besonderer Empfindlichkeit, sich zu ernsten Schäden aus, wenn sie unbeachtet sich entwickeln können, vom Lehrer und Arzt bemerkt und frühzeitig bekämpft können sie meist beseitigt und Gesundheit und Kraft an ihre Stelle gesetzt werden.


Wenn der Turnlehrer eine neue Klasse übernimmt, ist es seine erste Pflicht, sich das „Schülermaterial” genau anzusehen.
Mit dem Befehle »Rührt Euch !« stehen die Schüler in lässiger, nicht straffer Haltung vor Ihm. Am vollkommen nackten Körper kann er jetzt alle, auch die kleinsten Verbildungen leicht erkennen, die man in der Orthopädie als Haltungsverfall bezeichnet. Seine typischen Merkmale bestehen in krummen Rücken, zusammengesunkenem Brustkorb, vorgeschobenem Bauch, abstehenden nicht gleichgehobenen Schultern (alles meist Sitzschädigungen).
Sie bedeuten eeine geschwächte und überanspruchte MMuskulatur, besonders des Rückengebietes. schlechte Entwicklung verschiedener Organgebiete - Schädigungen, die ungemein stark auf die Tätigkeit innerer Organe und die weitere Körperentwicklung einwirken.
In vielen Fällen werden sich dem Auge des Lehrers auch rachitische Veränderungen des nackten Körpers bieten. Eine seitlich gekrümmte Wirbelsäule, die oft erst durch geringe Schiefstellung des Beckens oder der Gesäßquerfalten erkennbar wird, fordert sogar Weglassen der Laufhose.

Sind die Zeichen des Haltungsverfalles nur am entspannten nackten Körper deutlich zu erkennen, so gehört die Nacktheit auch zum turnerisch bewegten Körper, der eine ganze Reihe kleiner, doch bedeutender Unterwertigkeiten sichtbar werden lassen kann. Hier kommen besonders bereits fest gewordene Haltungsfehler, zu wenig entwickelte Muskeln (Bauch, Arme, Beine usw.), nicht gedehnte, verkürzte Muskelpartien, Mangel an Kraft, Beweglichkeit und Bewegungssicherheit in Betracht.
In vielen leichten Fällen wird eine gründliche entsprechend gerichtete Körperübung Besserung und Heilung bringen, für schwere Fälle ist es gut, dass sie der Lehrer erkennt und die Betreffenden fachärztlicher Behandlung überweist.


Also schon aus Gründen der Gesundheit - wenn man ästhetische, ethische oder hygienische etwa nicht für ausreichend halten wollte - wäre es dringend erwünscht, wenn der nackte Körper im Schulturnbetrieb zur Gewohnheit würde. Es ist zu hoffen, dass die häusliche Erziehung in dieser Hinsicht bald völlig allgemein wird, dem Nackten Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit zurückgibt, damit einer ernsten, notwendigen Freikörperkultur auch in der Körpererziehung der Schule keine zopfigen Bedenken mehr entgegenstehen, die vorläufig noch oft genug den Weg zu Gesundheit und Lebensfreude verschütten !

Rudolf Jordan, Akad. gepr. Turn- u. Sportlehrer

Quelle:
Text und Bilder aus Licht-Land - 1/1931

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